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Outtakes: Leuchtende Tage

Ich liebe Outtakes.
Wenn ich einen Film gesehen habe, und auf der DVD ( jaja, ich weiß: ganz schön Oldschool… aber so bin ich eben) noch diese wunderbaren Schnipsel sind, von schiefgegangenen Szenen, oder von Szenen, die toll sind, aber nicht mehr in den Film gepasst haben, aus welchen Gründen auch immer.

Für LEUCHTENDE TAGE gibt es auch Outtakes. Einen Schnipsel davon findet man nun hier.
Ich mochte die Szene mit der 9-jährigen Lisette immer sehr gerne, weil sie zeigt, wie wichtig Wilhelm für Lisette ist, und umgekehrt. Aber da man nie alles in einen Buch packen kann, was man gerne rein packen würde, gibt es nun eben auch mal Outtakes!

Viel Spaß beim Lesen!

1897

„Du musst es jetzt schwören,“ forderte Wilhelm und sah Lisette aus seinen geröteten und vom Weinen geschwollenen Augen an. Mit Wilhelm zusammen ein Geheimnis zu haben, war etwas ganz besonders Heiliges, und sie fühlte sich sehr wichtig, und fast so erwachsen wie er, und natürlich würde sie niemandem etwas davon verraten.

Als Lisette in sein Zimmer gekommen war, hatte er auf dem Boden gelegen und so seltsam gezuckt, dass sie im ersten Augenblick einen fürchterlichen Schrecken bekommen hatte. Sie hatte nach ihrer Mutter rufen wollen, nach dem Mädchen Anni, nach Friedrich, nach Hilfe, aber sie war wie erstarrt gewesen, und kein Ton war aus ihr herausgekommen. Erst als sie neben ihm auf den Teppich kniete, hatte sie verstanden, dass er weinte. Ihr großer Bruder Wilhelm weinte. Schweigend hatte sie sich neben ihn auf den Teppich gelegt und ihm vorsichtig über die braunen Locken gestreichelt, bis das Schluchzen verebbt war.

„Was ist los?“, flüsterte sie. Wie erhitzt er war vom Weinen. Sie versuchte, die kleinen Löckchen, die feucht an seiner Schläfe klebten, trocken zu pusten, und wartete geduldig bis er endlich aufschaute und sprach.

Er hatte heute bei der Leibeserziehung in der Schule seine Liegestütze nicht geschafft. Er war ein elender Schwächling und nichts wert, brach es aus ihm heraus. Und dass er auch noch heulen musste wie ein Mädchen, war ja wohl der Beweis: er sollte besser gar nicht am Leben sein.

„Aber das ist doch überhaupt nicht wahr“, rief Lisette empört. „Das stimmt ganz und gar nicht“, widersprach sie noch einmal mit Nachdruck und drückte ihm einen Kuss auf das tränennasse, gerötete Gesicht. Ihre Lippen schmeckten danach ganz salzig von seinen Tränen. Er wollte jetzt sehr viel üben, damit er allen beweisen konnte, dass er den Körper und den Willen eines Mannes hatte, weil sein Turnlehrer ihn vor all seinen Kameraden bloßgestellt, und ihn als Memme bezeichnet hatte, der dem Kaiser eine Schande sei. Alle hatten gelacht. Über ihn, die Memme.

„Hart muss ich werden“, murmelte er. „Viel härter.“ Er wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. „Weil man hart sein muss, wenn man ein Mann sein will.“ Seine Nase lief, und er zog sie hoch. „Wenn man ein Mann sein will, braucht man eine geputzte Nase“, sagte Lisette und dann starrten sie beide auf das zarte Batisttüchlein, das Lisette nun hervorzog und ihm reichte. Wilhelm musste lachen, nahm ihr das bestickte Tüchlein aus der Hand und schnäuzte kräftig. Darüber musste auch Lisette lachen, dass der große Kerl, in ihr kleines Batisttaschentuch schnäuzte.

„Ich schwöre es“, sagte Lisette feierlich, nachdem er sie dazu aufgefordert hatte. „Kein Wort. Niemals. Noch nicht einmal zu Josephine.“ Sie legte ihren Zeigefinger auf die Lippen und hob ernst die Hand zum Schwur. „Und ich übe mit dir, wenn du willst.“ Sie stützte sich neben ihm auf dem Boden auf und schaute ihn erwartungsvoll an.

„Mädchen können keine Liegestütze“, behauptete er.

„Wetten, dass Mädchen das auch können?“

„Und wenn schon. Es ist egal.“

„Es ist überhaupt nicht egal!“, rief Lisette. „Komm, ich helfe dir!“

„Du bist zu klein und zu dumm, um mir zu helfen. Keiner kann mir helfen“, schniefte er düster.

„Ach, dann kannst du deine blöden Leibesübungen auch alleine machen!“ Lisette sprang auf und wollte beleidigt weglaufen, aber er hielt sie am Knöchel fest.

„Pace!“, rief er. „Ich erbitte Vergebung. Verfügt über mein Schicksal, Herrin!“ Er drehte sich zu ihr und zog ein flehendes Gesicht. Lisette schaute stirnrunzelnd herunter zu ihrem Bruder. Jetzt war er wieder lustig. Aber sie wusste genau, wie ihm zumute war. Wenn er so lustig tat, war er besonders traurig, als ob er ein besonders spaßiges Versteck brauchte für seinen Kummer.

„Du bist viel dümmer als ich“, sagte sie, streckte ihm aber ihre Hand hin. Er ergriff sie und sie ließ sich von ihm wieder zu Boden ziehen und kullerte auf ihn.

„Oh Herrin, ihr seid ja schwerer als ein Elefant“, prustete er und schützte schnell sein Gesicht vor der Ohrfeige, die Lisette ihm austeilen wollte. Sie kullerten raufend über den Boden. Lisette liebte es, mit Wilhelm zu raufen. Er war zwar immer stärker als sie, aber sie war flink und es gelang ihr oft, sich aus seinem Griff herauszuwinden. Als sie ihre Mutter rufen hörten, hielten sie inne, um zu hören, was sie rief. Sein Gesicht war so dicht vor ihrem, dass sie jede einzelne seiner Sommersprossen zählen konnte. Sie beide hatten die gleichen dichten, braunen Locken, und die gleiche helle Haut mit den winzigen, dunklen Pünktchen, die im Sommer in ihrer beider Gesicht auftauchten. Aber Wilhelm hatte Mutters braune Knopfaugen, die sie jetzt dunkel unter seinen vom Weinen geschwollenen Lidern anfunkelten, während ihre Augen von einem hellen Grün waren, in dem hier und da kleine Goldpünktchen tanzten. Sie beide sahen sich sehr ähnlich, ähnlicher als Friedrich, der mit den blonden, glatten Haaren eher nach Vater kam, zumindest sagten das alle. Ihr Atem ging noch schnell, und es war schwer, so ruhig zu halten, um zu hören, nach wem Mutter rief. Sie versuchte, die Pause auszunutzen, und sich aus Wilhelms Griff zu befreien, doch er reagierte sofort und hielt sie fest. Sie grinsten beide, und warteten ab, ob sie Mutter noch einmal hörten. Da war ihre Stimme wieder. Und sie rief nach Lisette. Lisette seufzte, und Wilhelm ließ sie los, damit sie aufstehen konnte.

„Aber du vergisst nicht…“

„Nein, bestimmt nicht, niemals“, versicherte sie ihm und stand auf. Sie strich ihr Kleid glatt, richtete den Kragen und ging zur Tür. Als sie Klinke schon in der Hand hatte, drehte sie sich noch einmal um und schaute ihren Bruder an. „Ich bin nicht dumm. Und auch nicht klein.“

Er nickte ernst. „Du bist überhaupt nicht dumm. Und bald wirst du auch nicht mehr klein sein.“

„Sehr bald“, bestätigte sie und zog die Tür hinter sich zu, um zu ihrer Mutter zu gehen, die wahrscheinlich etwas wesentlich Uninteressanteres von ihr wollte. Genau so war es auch. Lisettes Klavierlehrerin war gekommen, und bestand darauf, sämtliche Tonleitern vorgespielt zu bekommen. Auch die mit den ganz vielen Kreuzen.

 

 

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