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Liebeserklärung an Whitstable, Mutter-Tochter-Urlaube und Wilde Jahre

Whitstable. Der Ort ist für mich aufgeladen mit vielen Erinnerungen und trotz aller Veränderungen, die der Ort durchlaufen hat seit ich ihn kenne, ist er ein zweites Zuhause geworden.
Vor Jahren, ziemlich vielen Jahren, habe ich in Canterbury studiert und den Sommer weitgehend am Strand verbracht. Whitstable in den 80ern, das waren Fischerboote, Strand, Beachhuts, Fish&Chips und Austern am Hafen (die ich mich nie zu essen getraut habe). Die Häuser waren nicht im besten Zustand, der Ort war damals rau und abgetakelt. Der Lack war ab, und es war herrlich so. An der Uni probierten wir aus, jemand zu sein, der und die wir nicht waren, versteckten all das, was wir für unzulänglich hielten, aber hier pustete der Meerwind alles weg. Hier war plötzlich alles echt.
An den Häusern blätterte die Farbe ab, wo der salzige Meerwind kratzte. Es roch nach Fisch, das Meer war trüb, die Fischer zeigten hemmungslos ihre fehlenden Zähne, wenn sie lachten. Künstler, und solche, die es werden wollten, arbeiteten in zugigen Ateliers in alten Bootsschuppen, weil es billig war. Und dann gab es natürlich, the one and only: The Old Neptune. Der Pub am Strand, an dem man einfach auf dem Kies saß und Cider oder Bier trinkend zuschaute, wie die Sonne im Meer versank.

Es hat mich immer wieder hierhin zurückgezogen. Über die letzten 40 Jahre hat sich Whitstable von einem charmant abgetakelten Örtchen zu einem charmant alternativ und von Künstlern frequentierten Örtchen zu einem am Wochenende von Londonern überschwemmten Ausflugsziel entwickelt. An einem Sommersonntag ist es hier so voll wie in der Fußgängerzone einer Großstadt an einem Adventssamstag und die Schlangen an allen Wasser- und Futterstellen sind meterlang. Aber montags schüttelt sich der Ort und kommt wieder zu sich. Und genauso geht es mir, wenn ich dort bin. Ich schüttele mich. Ich komme zu mir.

Die Nordsee lädt keine aufgetakelten Strandschönheiten ein, sie ist salzig und trüb, aufgewühlt von den Gezeiten, der Kiesstrand (ein Eldorado für Steinesucherinnen) ist unbequem und zwischen den Steinen riecht es nach Algen und Fisch und Austern, die die Flut anspült. Zur Freude der Möwen.

Hier habe ich viel geschrieben, es ist der Ort, an dem ich meine Stimme finde, wenn ich sie selbst nicht mehr höre.

Whitstable ist auch der Ort vieler Mutter-Tochter-Urlaube, der Ort, an den wir immer wieder zurückkehren und die Erinnerungen auffrischen und uns neu verbinden. Mir war es schon immer wichtig, mit meiner Tochter Zeit alleine zu verbringen. Schon seit sie klein war. Anfangs war es vielleicht eine Not (zu lange Ferien, zu wenig Betreuungsangebote, nicht genug Urlaub für berufstätige Eltern, so dass wir ihn aufteilen mussten) aber daraus wurde schnell eine Tugend. Es waren immer besondere Tage. Freie Zeit miteinander, in der man sich aufeinander einstellt, sich nah ist, Neues entdeckt aneinander, dem Alltag entkommt, mit seinem Zeitdruck und dem vielen „müssen“ und die vielen „jetzt nicht“… Zeit zu zweit ist immer anders als Zeit zu dritt.
Es gelingt uns nicht jedes Jahr, aber wir versuchen es. Diese Zweisamzeiten haben bestimmt dazu beigetragen, unser Band so dicht zu weben, dass es so gut hält.
Jetzt gibt es oft lange Zeiten, in denen wir uns wenig begegnen können, da sind diese exklusiven gemeinsamen Tage um so wichtiger.

Kein Wunder also, dass Whitstable auch der Ort ist, an dem Paula in Wilde Jahre im Old Neptune zusammen mit Harry auftritt. Kein Wunder, dass sie in einem der abgetakelten viktorianischen Strandhäuser lebt, die in den 70ern von Künstlern, Aussteigern und Hausbesetzern bewohnt wurden, und heute für Millionenbeträge die Besitzer wechseln.
Kein Wunder, dass sie in dem Chippie Fish & Chips kauft, den es irgendwie schon immer gibt, und der heute noch genauso aussieht wie damals und an allen modernen Foodtrends vorbei immer noch das gleiche Essen anbietet.

Und überhaupt kein Wunder, dass dies der Ort ist, an dem Paula und ihre Tochter Maya endlich die Distanz, die zwischen ihnen herrscht, überwinden und zu einer innigen und ehrlichen Beziehung miteinander finden.

Solltet ihr jemals nach Whitstable kommen, ihr werdet fast alles wiederfinden, wovon ich im Roman erzähle. Nur das Eiscafé, in dem Paula die größten und üppigsten Knickerbocker Glorys serviert, das hat schon lange zugemacht… aber das beste Eis gibt es ja sowieso bei Sundae Sundae. Da, wo man auch das Sandspielzeug und die Netze zum Crabfishing bekommt und die Sonnenhüte und alle Sorten von altmodischen Süßigkeiten…

astridruppert

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